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Brenda Bufalino – Das Lied der Ulme
Aus dem Amerikanischen von Susanne Kaiser
Paperback
144 Seiten
ISBN 978-3-938498-35-4
Vorrätig
Beschreibung
Indian Island (Penobscot-Reservat, Maine), zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts:
Madeline kommt singend auf die Welt. Mit ihrer Stimme erschafft sie mystische Gesänge und Voraussagen – sogar Gespräche mit Blumen und Vögeln verwandelt sie in Melodien. Mutter Hannah bezaubern und trösten die klangvollen Lieder. Jedoch Madelines Vater Jeremiah, ein calvinistischer Prediger, hält ihren Gesang für eine Dämonenbeschwörung und fürchtet den unbezähmbaren Freiheitsgeist seiner Tochter. Deshalb fasst er den Plan, seine Tochter durch eine arrangierte Heirat mit dem alten Noah für immer aus seinem Haus zu vertreiben. Aber Madeline hat sich bereits in Eldred verliebt, den sie bei einem nächtlichen Ausritt zur gegabelten Ulme kennenlernte.
Eine Erzählung wie ein Gesang – hochemotional und nachhaltig berührend.
Leseprobe
Den ganzen Winter hindurch spürt Madeline, wie die Kraft des Vollmondes sie aus ihrem Bett treibt. Sie geht in ihrem winzigen Zimmer auf und ab und summt leise vor sich hin. Mit der Decke um ihre Schultern erscheint ihr tanzender Schatten im Kerzenlicht wie ein riesiger Vogel im Flug ‒ und in der Nacht möchte sie genau das sein. Und wo sie sein möchte, ist am Himmel, über weite Felder fliegend, irgendwohin, irgendwohin … einfach weg, weg. Ihr Bettzeug ist jeden Morgen schweißnass, weil ihre Gefangenschaft sie so beklemmt.
Am Vorabend ihres dreizehnten Geburtstags kann Madeline sogar durch das mit Fensterläden verschlossene Fenster riechen, wie sich die Erde dem Vollmond öffnet ‒ der erste Duft eines Frühlingsabends. Ihre Mutter hat ihr Lieblingsessen gekocht: Milchlamm mit Minzgelee und über den Kohlen des Holzofens gegrillte Kartoffeln. Jeremiah verwöhnt seine Familie nicht mit Festen. Wie üblich erhält sie von ihrem Vater kein Geschenk zur Feier ihres ersten Zehnerjahres. Deshalb beschließt sie, sich selbst mit Freiheit zu beschenken. Sobald ihr Vater sein Schlafzimmer gegen die Nacht abdichtet, tauscht sie ihr Nachthemd gegen seine Reithose, die an einem Nagel vor seiner Tür hängt. Die Nacht ist frisch, darum zieht sie ihr Wollkleid an, steckt es in die Hose ihres Vaters und hüllt sich in die gewebte Decke aus ihrem Bett. Dann geht sie leise durch das Haus zur angebauten Scheune.
Die kühle Märzluft lässt das mit warmem Mist vermengte Heu dampfen. Madeline atmet den herrlich lebendigen Duft ein und zittert vor Angst und Aufregung. Sie hat noch nie ein Pferd gezäumt oder gesattelt, auch nicht breit auf dem Rücken eines Hengstes oder einer Stute gesessen. Stattdessen war sie gezwungen, neben ihrem Vater auf den mit Rosshaar gefüllten Ledersitzen ihres Wagens zu sitzen, artig und sittsam, wie es einem jungen Mädchen geziemt. Ihre Kraft, auf die sie so stolz ist, darf sie nur zeigen, wenn sie Säcke voll Mehl aus der Mühle oder Kisten mit Äpfeln von den Feldern trägt.
Jetzt steht Madeline neben der Box des jüngsten Tieres, einer grauen Stute mit gelber Mähne, klein und dünnbeinig, aber mit wildem Blick – ein Auge blau, eines schwarz. Obwohl dieses dreijährige Tier mit seinen unterschiedlichen Augenfarben alle anderen aus dem Haushalt ängstigt, spürt Madeline eine Verwandtschaft. Sie spürt, dass auch sie zwei Farben hat und zwei Seelen: andächtig zuhörend und erbaut durch die Heilige Schrift, während ihr Geist sich danach sehnt, mit dem Wind zu reiten. Und das wird sie jetzt tun. Niemand wird wissen, wo sie ist, außer den Bäumen, an denen sie vorbeistreift, oder dem Gras, auf das die Hufe der Stute treten.
Sie hebt Zaumzeug und Sattel von ihren Halterungen und macht sich daran, das Pferd zu satteln, wie sie es bei ihren Brüdern gesehen hat. Die junge Stute zittert und schnaubt, ihr heißer Atem kitzelt Madelines Nacken. Ihr Lachen erschreckt das Pferd. Es scheut und landet fast auf ihrem Fuß. Gerade noch rechtzeitig springt sie beiseite und die große Reithose ihres Vaters rutscht über ihre schmalen Hüften auf den Boden. Sie nimmt ein Stück Seil, bindet es um ihre Taille und rollt die schwarze Hose darüber. Als sie ungeschickt versucht, dem Pferd die Trense ins Maul zu schieben, legt es seine Zunge darüber und mahlt und kaut auf der Trense herum, bis sich an den Seiten seines Mauls weißer Schaum sammelt. Madeline, entschlossen, den Willenskampf zu gewinnen, streichelt seinen Hals und summt leise. Nachdem sich beide durch ihr sanftes Murmeln beruhigt haben, versucht sie es erneut. Während sie den Sattelriemen um seinen Bauch befestigt, dehnt das störrische Pferd seinen Brustkorb aus. Als sie aufsteigen will, löst sich der Gurt und der ganze Sattel – mitsamt ihr – fällt auf den Boden. Trotzdem ‒ sie gibt nicht auf. Noch einmal, immer noch eine beruhigende Melodie summend, legt sie die Satteldecke und den Sattel an, diesmal noch vorsichtiger. Sie macht den Gurt fest, steigt auf den zitternden Pferderücken und sitzt endlich richtig.
Ihr Vater hat die junge Stute gerade erst zugeritten und reitet sie nicht gerne, weil sie so klein ist. Er reitet lieber einen der großen schwarzen Morgans, die seinen Wagen ziehen. Daher ist die Stute – namenlos und ungezähmt – nicht trittsicher. Unsicher im Gelände stolpert sie und stößt mit den Hufen gegen Felsvorsprünge. Aber Madeline kennt jeden Zentimeter Erde um die kleine Farm herum und auch die Wiese, die ihre langen Arme bis hinunter zu den Zwillingsseen streckt. Als Kind hat sie Pfade entlang des Flusses geschaffen, der jetzt vom Frühlingsregen angeschwollen ist, und sie weiß, wie sie die Marsch mit den großen stechenden Gräsern umgehen kann. Als sie zu den Hügeln hinter den Seen reitet, klopft ihr Herz laut wegen der unheimlichen Aufregung über ihre mutwillige Flucht. Sie lächelt ihr Spiegelbild zu Pferd an, das der Vollmond auf das Wasser projiziert, und lacht laut auf über das, was wie eine unförmige Erscheinung des kopflosen Reiters aussieht, der aus einer schwarzen Lagune steigt.
In dem Moment, als sie die Zügel lockerer und ihre Gedanken in die Tiefe des Himmels schweifen lässt, geht ihr Pferd durch, nimmt die Trense ins Maul und galoppiert in Richtung der Hügel, sodass Madelines Haare und Decke flattern. Sie rasen durch die stechende Salzmarsch, einen Hügel hoch, einen anderen hinunter und durch einen dichten Eichenbestand. Dann rutscht ihr linker Fuß aus dem Steigbügel, sie verfängt sich mit dem hochgeschnürten Stiefel und verdreht sich den Knöchel, während sie seitlich vom Pferd rutscht. Die Stute bleibt abrupt vor einer alten Ulme mit einem gegabelten Stamm stehen.
Booktrailer
Über die Autorin
Brenda Bufalino ist eine vielseitige US-amerikanische Künstlerin: Autorin, Keramikerin, international berühmte Choreografin und Steptanzmeisterin. Als Gründerin und Leiterin des American Tap Dance Orchestra sowie als Solistin war sie in der Town Hall, der Carnegie Hall, dem Joyce Theater und dem Kennedy Center zu Gast. Für ihr Lebenswerk erhielt sie den renommierten Bessie Award. Wenn sie nicht auf Tournee ist, verbringt sie ihre Zeit zwischen New York City und New Paltz, New York. Sie hat zwei Söhne und fünf Enkelkinder sowie Tausende Schülerinnen und Schüler in aller Welt.