19,89 €
Einer muss ja hierbleiben
Hg. von Astrid Melzer
220 S.
ISBN 978-3-938498-34-7
Vorrätig
Beschreibung
Viele von den Menschen, die in der DDR aufwuchsen, erinnern sich noch sehr genau an die Ereignisse von 1989/90. Sie führten oft zu einem bedeutenden biografischen Einschnitt.
In diesem Band berichten 27 ehemalige DDR-Bürger von ihren Lebensgeschichten und -erfahrungen, von den großen und kleinen Umwegen die sie damals gehen mussten und die mit Chancen und Risiken verbunden waren. Der Leser erfährt, wie es den Menschen gelang, sich in eine umstrukturierte Gesellschaft wieder einzubringen, und was ihnen dabei half, Hindernisse zu überwinden.
Leseprobe
Sekretärin im VEB Carl Zeiss Jena, Abt. ZMB – Betrieb für Zulieferung, Materialbeschaffung, 22 Jahre
Am 9. November 1989 war ich mit Kollegen abends beim Kegeln. Im Oktober erst hatte ich als Sekretärin bei Zeiss angefangen und fühlte mich da sehr wohl. Eine Freundin machte mich auf diesen Arbeitsplatz aufmerksam, der frei geworden war, da jemand zum Studium ging, und weil sie wusste, dass ich meine Arbeitsstelle wechseln wollte. Der Abteilungsleiter stellte mich sogar ein, obwohl ich nicht Kaffee kochen konnte, was ja unbestritten zu den Aufgaben einer Sekretärin gehörte. Ich arbeitete in der Abteilung Materialbeschaffung, tippte Bestellungen, Briefe des Abteilungsleiters sowie regelmäßig den Materialrapport, versandte Fernschreiben und kümmerte mich um die Ablage und die Urlaubsplanung. Um die Anwesenheitsliste zu führen, musste ich mich jeden Morgen selber davon überzeugen, dass alle Kollegen gekommen waren. Da einige, die zur Abteilung gehörten, im Leitstand arbeiteten, machte ich morgens einen kleinen Spaziergang durch den Betrieb, um dahin zu kommen. Bei sehr schlechtem Wetter reichte aber auch manchmal im Vertrauen auf die Kollegen ein Anruf.
Die tägliche Arbeitszeit ging von 7 bis 16.15 Uhr. Morgens fuhr der Bus um 6.37 Uhr von der Stadtmitte hinaus zum Werk. Wir waren in einer Art Baracke untergebracht, an der Bahngleise vorbeiführten. Ab und zu rollte ein Güterzug dort entlang und dann gab es in der Baracke einen leichten Ruck. Wenn man im Frühsommer die Fenster zum Lüften öffnete, rankte der wilde Hopfen ins Zimmer und verbreitete dort seinen sehr speziellen Geruch. Der Rest der Betriebsabteilung bestand aus einer großen Lagerhalle und ausgedehnten überdachten Freiflächen zur Lagerung der bestellten Materialien. Jeden Tag konnte man in der Betriebskantine essen, wo gekocht und Essen ausgegeben wurde. Dafür brachte jeder sein eigenes Besteck von zu Hause mit, das in einem Handtuch eingewickelt in einer Bestecktasche (ein längliches zuknöpfbares Etui) lag und nach jedem Mittagessen unter fließendem Wasser gewaschen, mit dem Handtuch abgetrocknet und wieder verpackt wurde.
Abends und an den Wochenenden war ich mit dem Tanzensemble des VEB Carl Zeiss Jena bei Proben und Auftritten (unter anderem in Jalta und Polen). Für diese mehrtägigen Reisen wurde man von der Arbeit freigestellt. Mit Kleidersack und Schminkkoffer waren wir meistens in Bussen unterwegs. Die Proben fanden montags, dienstags und freitags am Abend statt und dauerten jeweils drei Stunden. Erst wenige Tage zuvor hatten wir mit unserem neuen Tanz-Programm Pausen-Sound Premiere gefeiert, das anlässlich der Bezirksleistungsschau für Bühnentanz mit Oberstufe – ausgezeichnet bewertet wurde.
[…]
Den Kegel-Abend am 9. November gewann ich mit dem 2. Platz und bekam einen Satz Handtücher geschenkt. Wir saßen danach noch an einem Tisch, als plötzlich ein Mann in die Gaststätte kam und sagte: »Habt ihr schon gehört? Die Grenzen sind offen.« Wir überlegten erst mal, ob er vielleicht zu viel getrunken habe. Der Wirt stellte das Radio laut und wir hörten, dass Günter Schabowsky auf einer Pressekonferenz erklärte, dass die Ausreise in die BRD ab sofort mit einem Visum über Grenzübergänge der DDR gestattet sei. Wir bestellten noch eine Runde. Danach aber löste sich unser Kollegen-Kreis auf und jeder fuhr nach Hause, um über das Fernsehen Genaueres zu erfahren.
[…]
Das erste Mal fuhr ich im Februar 1990 mit der Tanzgruppe in den Westen – diesmal mit dem Zug nach Erlangen. Die Stadt war Partnerstadt von Jena geworden. Mein Eindruck vom Erlanger Bahnhof versetzte mich nicht wirklich in Begeisterung. Das sollte der »goldene« Westen sein? Wir wurden in einer Jugendherberge untergebracht. Im gleichen Gebäudekomplex war eine Schwimmhalle mit Solarium, wo wir für anderthalb Stunden Aufenthalt 3,50 D-Mark zahlten. Als wir durch die Straßen liefen, fiel mir auf, dass die Luft im Vergleich zu Jena trotz der vielen Autos und Busse recht sauber wirkte. In der wunderschönen Buchhandlung Palm & Enke leistete ich mir ein Taschenbuch. Am Sonntagabend hatten wir dann unseren recht erfolgreichen Auftritt im E-Werk.
Operationsschwester in der Universitätsklinik Halle, 33 Jahre
Als ausgebildete OP-Schwester arbeitete ich bis 1988 im OP-Saal. Wir waren ein vergleichsweise kleines Team: zunächst vier Schwestern, später fünf. Unser Alltagsprogramm waren Fehlbildungen im Kiefer-Gesichts-Bereich, Unfallverletzungen jeder Art, Tumorerkrankungen sowie Entzündungen (Abszess-Geschehen im Kopf-Hals-Bereich). Auch kosmetische Operationen kamen vor, jedoch waren für solche Eingriffe die Zeit- und mitunter auch die Materialkapazitäten zu gering. Materialmangel war eine Grunderscheinung, weshalb wir unendlich sorgsam mit allen Materialien umgingen. Auch einfachste Mittel, wie Wischlappen, wurden rar am Ende der 1980er-Jahre! Trotzdem plante man so, dass keine OP abgesetzt werden musste.
Täglich war Improvisationstalent gefragt. Instrumente pflegten wir sehr gewissenhaft und prüften sie auf Funktionstüchtigkeit, ehe sie für den kommenden Eingriff neu sterilisiert wurden. Auch den Sterilisationsprozess bewerkstelligten wir im OP. Es gab Heißluftsterilisatoren und Autoklaven (Dampfsterilisation). In späteren Jahren kam ein Gassterilisator für Kunststoffartikel dazu. Diese Arbeiten erledigten wir für alle Abteilungen des Hauses. Es war ein großes Aufgabenfeld zu bewältigen. Das ging nur Hand in Hand. Für Streitigkeiten war da einfach kein Platz und auch keine Energie mehr.
Improvisation war auch wichtig, wenn es um den Bereitschaftsdienst ging. Da das Krankenhaus zu wenige Räume bot, gab es kein Bereitschaftszimmer für die OP-Schwestern. Wir gingen »auf Abruf« nach Hause. Wurden wir gebraucht, sandte uns die Klinik ein Taxi, das uns daheim abholte und zur Klinik brachte. Da es damals auch nicht für jedermann ein Telefon gab, kam das Taxi ohne Vorwarnung!
[…]
Der tollste Moment war aber, als an einem klaren eiskalten Dezembermorgen um 5 Uhr ein Schmerzpatient mit dicker Wange vor der Haustür stand: »Sind Sie die Schwester aus der Klinik? Ich soll Sie holen, war kein Taxi da, der Doktor braucht Sie, ist beim Patienten geblieben, und ich kann erst behandelt werden, wenn Sie da sind! Machense hin, mein Moskwitsch kann ich nich ausmachen, hat Startprobleme!« Unten auf der Straße tuckerte ein Moskwitsch vor sich hin …
An einem 1. Mai der 1980er-Jahre wurde ich mit dem Streifenwagen abgeholt, da wegen der Maidemonstration keine Taxis oder andere Autos die Straßensperren durchfahren durften. Weil alle in unserem Umfeld wussten, dass meine Familie keine linientreue war, ging sofort das Gerücht um, dass man mich »abgeholt« habe. Am nächsten Tag wurde ich von den Nachbarn mit einer Menge Fragen belegt. Als sie aber erfuhren, dass es nur um die Arbeit ging, wirkten sie sehr enttäuscht.
In größeren Abständen hatten wir Gäste aus mehr oder weniger fernen Ländern. Besonders in Erinnerung blieb mir ein japanischer Professor, welcher drei Tage unsere Operationsarbeit studierte. Bei seiner Verabschiedung sagte er unserem Chef: »Sie haben Instrument wie in Steinzeit, aber was Sie damit machen, ist Weltspitze.« Natürlich erzählte uns das der Chef – er war stolz darauf; wir auch, aber die Lachsalve, die durch unseren OP brauste, war unvergleichlich.
[…]
In der Kirche war ich sehr aktiv, und wir hatten regelmäßig Besuch aus unserer Partnergemeinde in Holland. Dieser Gemeinde gelang es im Jahr 1989, Kontakt mit der DDR-Regierung in Berlin aufzunehmen und uns zu einem Besuch einzuladen. So geschah das »Wunder«: Eine Gruppe von neun Personen trat vom 1. bis 9. November diese Reise an.
Unsere Rückfahrt musste so geplant werden, dass wir bis 0.00 Uhr wieder auf DDR-Gebiet waren, und so beendeten wir unsere Reise am 9. November 1989 um 20.15 Uhr auf dem Hauptbahnhof Halle. Die Nachrichten waren vorbei, und wir hatten zu diesem Zeitpunkt keinerlei Informationen über irgendwelche besonderen Ereignisse. Natürlich waren zu Hause erstmal die unglaublichen Eindrücke der Reise dran, ehe ich in den Spätnachrichten von der Grenzöffnung erfuhr.
Forschungsstudent an der Sektion Geschichte der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, 27 Jahre
Die Nachricht über die Maueröffnung erfuhr ich am nächsten Morgen aus dem Radio, das jeden Morgen beim Frühstück dudelte. Die folgenden Tage waren von diesem Ereignis bestimmt, zumal die ersten Freunde und Kollegen einen Ausflug in den Westen unternahmen.
Später gab es das Begrüßungsgeld und die Menschen strömten in großen Scharen insbesondere in die nahe gelegenen Städte Lübeck und Hamburg. Meine Freundin und ich fuhren erst im Dezember nach Lübeck, da wir uns dem insbesondere an den Wochenenden herrschenden »Wahnsinn« auf den Straßen und in der Bahn nicht aussetzen wollten.
Dank meines permanenten Westfernseh-Konsums von Kindesbeinen an waren mir prall gefüllte Schaufenster und Auslagen nicht unbekannt. »Ausgehebelt« hat es mich aber in einem großen Lübecker Buchladen. Seit der 5. Klasse liebte ich Bücher und legte erhebliche Mengen meines Taschengeldes und später des Stipendiums in Büchern an. Fast täglich besuchte ich während meines Studiums in Rostock die Universitätsbuchhandlung und das Antiquariat. Und nun dieses unglaubliche Angebot an Büchern!
Durch Zufall lauschte ich dem Gespräch einer Kundin mit einer Verkäuferin. Erstere wollte ein Buch haben, das sie leider nicht vorfand. Als die Verkäuferin darauf antwortete, sie könne das gesuchte Buch bestellen und es läge dann am kommenden Tag zur Abholung bereit … – ich gebe zu: Das machte mich sprachlos. Der gut sortierte Buchladen bot so viele Bücher, von denen ich sofort Dutzende hätte kaufen wollen. Nach dem Ausschlussprinzip erwarb ich, in Absprache mit meiner Freundin, dann nur ein Buch – Stephan Heyms Collin.
Im März 1991 verteidigte ich meine Dissertation A erfolgreich. Ein harter, aber wunderbarer Tag, der mit einer großen Feier endete, an der Dutzende Kollegen, Freunde und Bekannte teilnahmen. Doch die Rahmenbedingungen waren alles andere als wunderbar. Der Anschluss der DDR an die BRD führte unter anderem zu einer Übernahme des bundesdeutschen Hochschulsystems; mit all seinen Stärken, aber auch all seinen Schwächen. Im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich, aber nicht nur dort, fand ein fast vollständiger Austausch der Hochschullehrer statt. In Anlehnung an westdeutsche Universitäten, die sich durch einen deutlich geringeren Anteil des Mittelbaus auszeichneten, wurde der Mittelbau auch in Rostock radikal eingedämmt. Mich erwischte es am 31. Juli 1991. An diesem Tag lief mein Assistentenvertrag aus und ich wurde arbeitslos.
Die nächsten Jahre waren hart, nicht selten entwürdigend. Allein die Montagsgänge zum Arbeitsamt, wo man als Nummer deklariert wurde und immer wieder erfuhr, dass man leider nichts machen könne, zerrten an den Nerven. Nicht selten endete der Tag mit fünf Flaschen Bier in der Tasche. Mehr passten nicht rein und das war letztendlich auch gut so! Am Nachmittag begann dann zu Hause die Frustbewältigung. Der Tag endete zumeist am frühen Abend. Ich ging schlafen, um mich am nächsten Tag als Stehaufmännchen wieder in die Spur zu begeben.
»Qualifizierungsmaßnahmen« des Arbeitsamtes, wie zum Beispiel Wie bewerbe ich mich richtig?, wurden von mir eher als Belustigung betrachtet. Einen Sinn sah ich darin nicht, aber ein Fernbleiben hätte sofort das Arbeitsamt auf den Plan gerufen. Also fuhr ich täglich in die Südstadt, erklärte der Kursleiterin meinen Qualifizierungsstand und wurde in Ruhe gelassen.
Parallel dazu folgten verschiedene Versuche, im kapitalistischen Berufsleben Fuß zu fassen. Die beruflichen Träume wurden von Monat zu Monat kleiner und machten einer Realität Platz, die nichts mit meiner Ausbildung oder meinen Berufswünschen zu tun hatte. Die Angst vor dem Abstieg wuchs! Und nur so ist es zu verstehen, dass ich mich beispielsweise bei Ferrero als Gebietsleiter und bei der Deutschen Vermögensberatung als Versicherungsberater bewarb. Aus heutiger Sicht glücklicherweise erfolglos! Letztendlich baute ich mir 1992 eine ABM-Stelle im Volkskundemuseum Schönberg auf, sodass ich von Bad Kleinen, wo meine Eltern wohnten, per Zug nach Schönberg pendelte.
Doch nach einem Jahr war Schluss und eine Verlängerung wurde abgelehnt. Der Weg in die Arbeitslosenhilfe nahm reale Gestalt an. Eine kleine Finanzspritze bildeten regelmäßig kleinere historische Artikel, die ich für die regionalgeschichtliche Beilage Mecklenburg-Magazin der Schweriner Volkszeitung schrieb. Dank dieser ständigen Beschäftigung mit Geschichte, einem konsequenten Arbeitsalltag, der Einbindung in einen großen Freundeskreis und in meinen Schachverein sowie der seelischen Stützung durch meine Lebensgefährtin blieb ich in der Spur. Nicht selten hatte mein Umfeld, meist aber erst nach dem dritten Bier, meinen trotzigen Spruch »Der Sozialismus hat mich zu gut ausgebildet, als dass mich der Kapitalismus unterkriegt!« zu ertragen.
Mag sein, dass da etwas dran war. Vor allem lag es aber auch an einer Portion Glück und meinem Lebensmotto, den Zufall zu maximieren. Angesichts dieser Maxime stellte ich mich breit auf. Neben historischen Themen wurde ich journalistisch tätig und brachte mich ein, wo immer es ging. Ich bewarb mich an Museen, hielt Vorträge und schulte angehende Tourismusmanager in der mecklenburgisch-vorpommerschen Geschichte. Vor allem meine Arbeiten über die Ratzeburger Bauern und meine Kontakte zum Schönberger Museum brachten den »Durchbruch«. Aus heutiger Sicht mag dieses Wort Berechtigung haben, aus damaliger Sicht war es für mich nur ein möglicher Weg, der sich auftat. Mehr nicht!
1993 beschloss die Stiftung Mecklenburg in Ratzeburg, dem Land Mecklenburg zu seinem 1000. Geburtstag ein Geschenk zu machen. Nach längeren Überlegungen entschied sich der Stiftungsrat, eine Publikation erarbeiten zu lassen. Und nun kam ich ins Spiel! Allerdings klemmte es zunächst an der Finanzierung. Die Stiftung war bereit, den Löwenanteil des auf zwei Jahre angelegten Projektes zu übernehmen. Doch das Land sollte sich wenigstens mit einer kleinen Summe beteiligen. Alles hing am seidenen Faden, da das Schweriner Kultusministerium partout nicht zu bewegen war mitzumachen …
Lehrling zum Maschinen- und Anlagenmonteur im VEB Baumaschinen Gatersleben, 18 Jahre
Zwei Tage später fuhren wir mit der Bahn wieder nach Hause, und ich war sehr froh, nun kein Reiseleiter mehr zu sein. In unserem Dorf angekommen, mutete alles doch schon etwas seltsam an: Die Straßen waren nicht so belebt wie sonst, es fand keine Schule statt und selbst die Kaufhalle war wie leergefegt. Die Kassiererinnen saßen gelangweilt an ihren Kassen. An diesem Samstag waren viele Leute in den Westen gefahren, nicht unbedingt, um da zu bleiben, sondern um zu schauen, wie es dort so ist.
[…]
Die Regierungen beider deutscher Staaten, vor allem die westdeutsche, planten die Wiedervereinigung Deutschlands. Das Neue Forum, das die Montagsdemos im September 1989 mitorganisiert hatte, war nicht für eine Vereinigung. Es wollte eine neue DDR mit garantierten Grundrechten wie Freiheit, Meinungsfreiheit, Gerechtigkeit, Reisefreiheit und vor allem Demokratie. Heute wird das in den Medien immer so dargestellt, dass die Menschen lediglich auf die Straßen gingen, um frei reisen zu dürfen. Aber die Wiedervereinigung wurde vom Westen angestrebt, vor allem von Bundeskanzler Helmut Kohl, der unbedingt ein vereintes Deutschland erreichen wollte. Natürlich war es nicht nur der damalige Bundeskanzler allein; hinter ihm stand eine große Industrie-Lobby, die fette Geschäfte witterte. So wurde ein DDR-Betrieb nach dem anderen über die Treuhandgesellschaft abgewickelt oder an westdeutsche Konzerne und Investoren verkauft – nicht selten für den symbolischen Preis von 1 D-Mark. Allerdings waren nicht alle Betriebe in der DDR so marode, wie es heute gern dargestellt wird. Es gab zum Beispiel im Maschinenbau, der Stahlindustrie, Chemie- und Elektroindustrie viele Betriebe, die qualitativ gute Produkte lieferten. Nicht umsonst führte die Weltbank in den 1980er-Jahren die DDR unter den zehn wichtigsten Industrienationen.
[…]
Ein Betrieb nach dem anderen wurde geschlossen und die Menschen so in die Arbeitslosigkeit getrieben. Auch die wenigen Betriebe, die erhalten blieben, entließen massenhaft Mitarbeiter. Für uns Menschen in der sich auflösenden DDR war das eine komplett neue Erfahrung. Arbeitslosigkeit kannten wir nicht. Dieses Gefühl, einfach nicht mehr gebraucht zu werden, hatte für einige Menschen schwerwiegende Folgen. Viele gaben sich selbst auf, und die noch jung waren, gingen teilweise in den Westen zum Arbeiten, pendelten jedes Wochenende nach Hause oder ließen sich ganz in den alten Bundesländern nieder.
Viele Menschen in unserem Dorf kamen nicht damit klar, dass sie von heute auf morgen vor die Tür gesetzt und arbeitslos wurden. In dem großen Betrieb unseres Dorfes lief ebenfalls eine Entlassungswelle. Der Kaderleiter des Betriebes erhielt den Auftrag, eine Liste von 500 Arbeitern zusammenzustellen, die die Kündigung bekommen sollten. Von seiner damaligen Betriebschefin bekam er die Weisung, er solle seinen Namen ganz unten mit hinzufügen, weil auch er nicht mehr benötigt werde. Diesen Kaderleiter, den ich auch persönlich kannte, fand man am Wochenende darauf in seiner Gartenlaube – er hatte sich erhängt.
Im Juni bestand ich meine Facharbeiterprüfung – wie immer, ohne vorher gelernt zu haben. Fast alle Lehrer hatten bereits ihre Kündigung erhalten und nahmen ohne innere Beteiligung die theoretischen Prüfungen ab. Wir hatten den Eindruck, sie waren nur noch uns zum Gefallen da, um einen ordentlichen Abschluss zu finden. Im praktischen Teil sah das anders aus: Mein angefertigtes Werkstück, eine Bohrvorrichtung, wurde bis aufs Kleinste überprüft, aber schließlich auch für gut befunden. So hatte ich meinen Facharbeiterbrief in der Tasche. Leider entließ man in meinem Ausbildungsbetrieb ebenfalls viele Leute. Wir, die gerade ausgelernt hatten, bekamen einen befristeten Arbeitsvertrag für drei Monate und keine Option auf eine Übernahme.
[…]
Verrückt wie Hanna und ich waren, planten wir für den Oktober 1990 unsere Hochzeit. Auch wenn wir uns erst anderthalb Jahre kannten, fühlten wir, dass wir zusammen gehörten. Natürlich fanden unsere Eltern diese Idee nicht so toll. Aber trotz aller Einwände, die unsere Eltern vorbrachten, heirateten wir am 6. Oktober. Es war die erste Vermählung in unserer Kreisstadt, die nach bundesdeutschem Recht verlief. Drei Tage zuvor wurde die offizielle Wiedervereinigung Deutschlands gefeiert.
Da ich seit Anfang Oktober ohne Arbeit war, begab ich mich nach unserer Hochzeit auf Arbeitssuche. Es war natürlich nicht so einfach, eine neue Stelle zu finden, da ja viele Betriebe geschlossen wurden oder Arbeitskräfte abbauten. Allerdings erfuhr ich über mehrere Ecken, dass eine kleine private Schlosserei in der Stadt jemanden suchte. Ich fuhr sofort hin und fragte nach. Offensichtlich lieferte ich so ein gutes Bild ab, dass sie mich direkt und ohne schriftliche Bewerbung noch am selben Tag einstellten.
Glücklich darüber, schon am nächsten Tag anfangen zu können, fuhr ich nach Hause. Dort eingetroffen, sagte meine Mutter, dass ein Einschreiben für mich angekommen sei, das ich bei der Post abholen müsste. Ich lief dorthin und hielt wenige Augenblicke später einen Brief vom Kreiswehrersatzamt in den Händen: meine Einberufung zur Bundeswehr. Verdammt! Ich hatte gerade einen neuen Job ergattert, schon sollte ich zur Bundeswehr …
Fertigungstechnologin im VEB Landtechnisches Instandsetzungswerk Halle, 22 Jahre
[…] Die Produktion in unserem Werk bestand zu großen Teilen aus Fließbandstrecken und Nestfertigung. In den lauten Werkhallen gab es ölverschmierte, dreckige Böden und Wände. Ich erinnere mich auch an Fenster, die ich damals nicht wahrnahm, weil man kaum hindurchschauen konnte. Die Bänder liefen um 6.15 Uhr an, und wir arbeiteten acht Stunden 45 Minuten plus eine Viertelstunde Frühstück und eine halbe Stunde für die Mittagspause.
Die Frühstücksversorgung während der Produktion lief wie folgt: Eine halbe Stunde vor der Pause kamen Einkäufer, nahmen unsere Wünsche entgegen, und pünktlich zum Frühstück stand alles im Aufenthaltsraum auf dem Tisch. Mein Frühstück wechselte täglich zwischen zwei nackten Bratwürstchen mit Brötchen beziehungsweise vier halben belegten Brötchen und vier Flaschen Kakaomilch à 0,25 Liter.
In der Lehre wurden wir oft in der Produktion eingesetzt. Unsere Gruppe in der Vormontage war gemischt und bestand aus Deutschen, Mosambikanern und Vietnamesen. Auch gab es Landsleute, die öfter einmal nicht zur Arbeit erschienen und von den Meistern zu Hause »besucht« und abgeholt wurden.
[…]
Ich bewarb mich für ein Fachschulstudium zum Ingenieur für Landtechnik in Nordhausen und wurde zu meiner großen Freude und auch Überraschung im Anschluss an die Lehre von meinem Ausbildungsbetrieb dorthin delegiert. Das war nicht selbstverständlich. Zwar waren meine Leistungen recht gut, aber ich war seit meiner Jugend in der Evangelischen Kirche aktiv und verbrachte dort einen großen Teil meiner Freizeit. Ich ließ mich taufen und konfirmieren und war fester Bestandteil in der Jungen Gemeinde und im Kirchenchor. Heute klingt das banal – damals war es ein Statement, denn nicht selten endete durch die Aktivitäten in der Kirche die berufliche Karriere, bevor sie begann.
[…]
Zum Glück kam in diesem Winter die Wende. Wer politisch interessiert war, hatte in den letzten Monaten, mindestens seit den Wahlen im Mai 1989, die sich andeutenden Veränderungen in der DDR wahrgenommen. Auch in Halle gab es ab Anfang Oktober Montagsdemonstrationen. Die Menschen versammelten sich zuerst in der Marktkirche und zogen dann meist gemeinsam zur Parteizentrale der SED (auch »Die Partei« genannt). Zu Beginn noch zaghaft.
Bei der ersten Demo schritten Polizei und Stasi ein, um die Aktion zu verhindern. Eine Woche später nahm auch ich teil. Es herrschte eine mulmige Stimmung. Wir waren ängstlich, zogen mit Kerzen los und riefen: »Wir sind das Volk!« Als die Polizei nicht aktiv wurde, fühlten wir uns immer mutiger. Jeden Montag versammelten wir uns nun. Anfang Dezember 1989 änderte sich die Stimmung und die ersten Rufe ertönten: »Wir sind ein Volk!« Zu diesem Zeitpunkt brach ich meine Demo-Teilnahme ab. Ich wollte keinen Anschluss an die Bundesrepublik Deutschland, ich wollte eine neue, ehrliche DDR, die nicht auf Kosten der Umwelt produzierte und Chemikalien in die Flüsse leitete, die zunehmend stinkenden Kloaken ähnelten. Dass heute wieder Fische munter in der Saale schwimmen, ist für mich ein kleines Wunder.
Was mich damals am meisten in der DDR gestört hat, waren nicht die wenigen eingeschränkten Reisemöglichkeiten. Es waren die Beschränkungen im Denken und der freien Meinungsäußerung.
Im März 1990 kündigte ich meinen Arbeitsvertrag, weil mich die Arbeit völlig frustrierte. Aber meine Vorgesetzten wollten mich erst nicht gehen lassen. Ich argumentierte, dass in meinem Arbeitsvertrag stehe, dass sich die Rechte und Pflichten des Werktätigen aus dem Arbeitsgesetzbuch der DDR ergeben und ich verpflichtet sei, die sozialistische Arbeitsdisziplin einzuhalten. Das sei mir jedoch nicht länger möglich, da der Sozialismus gerade am Zusammenbrechen wäre. Obwohl ich keinen Plan für die Zukunft hatte, fühlte ich mich in diesem Moment großartig.
Meine Freundin suchte gerade eine neue Stelle als OP-Schwester in einem Krankenhaus und erfuhr dort von der Oberin, dass man dringend noch einen Gärtner suche. Die Stelle des Gärtners war nicht ausgeschrieben. Warum ich sie dennoch bekam, wurde mir erst später klar, nachdem ich die Oberin näher kennenlernen durfte. Meiner Meinung nach hatte sie sich an dem Tag, als sie den Wunsch nach einem weiteren Gärtner äußerte, einfach nur über den damals angestellten Gärtner geärgert und war mit der Qualität seiner Arbeit nicht zufrieden. Beim Vorstellungsgespräch merkte ich sofort, dass die Chemie zwischen uns stimmte. Auch wenn ich bis dahin kaum gärtnerisch tätig war, so konnte ich mir diese Arbeit gut vorstellen. Ich war mit dem Lohnangebot von 600 DDR-Mark einverstanden. Meine einzige Forderung bestand darin, dass der Arbeitsbeginn nicht vor 7.30 Uhr sein sollte – angestellt wurde ich als Garten- und Lagerarbeiterin.
So begann ich am 2. Mai 1990 mit dieser Arbeit. Am zweiten Arbeitstag, als ich bei herrlichem Sonnenschein im Garten Unkraut jätete …
Register
Tanz am Abgrund
Sekretärin im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena, Abt. ZMB – Betrieb für Zulieferung, Materialbeschaffung, 22 Jahre
Graue Häuser – buntes Leben
Pflegerische Hilfskraft im Krankenpflegeheim »Albert Schweitzer« Berlin-Blankenburg; Fernstudentin der Arbeits- und Beschäftigungstherapie an der Medizinischen Fachschule »Dr. Georg Benjamin« Berlin-Buch, 22 Jahre
Mit Jugendtourist unterwegs
Lehrling zum Maschinen- und Anlagenmonteur im VEB Baumaschinen Gatersleben, 18 Jahre
Zurück im sicheren Osten
Studentin Agraringenieur – Landwirtschaftliche Pflanzenproduktion an der Fachschule Zierow, 20 Jahre
Da liegt was in der Luft
Tischler in der Werkstatt der Charité Berlin, 23 Jahre
Glück ist, gestalten zu können
Aspirantin am Fachbereich Philosophie der Sektion Marxismus/Leninismus an der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, 36 Jahre
Der Technik treu geblieben
Fertigungstechnologe im VEB Landtechnisches Instandsetzungswerk Halle, 22 Jahre
Nun muss sich alles, alles wenden
Oberassistentin am Fachbereich Ästhetik der Sektion Kultur- und Kunstwissenschaften an der Karl-Marx-Universität Leipzig, 47 Jahre
Wende fast verpasst
Lehrer für maritimes Englisch an der Ingenieurhochschule für Seefahrt Warnemünde/Wustrow, 37 Jahre
Risiken und Nebenwirkungen
Operationsschwester am Universitätsklinikum Halle, 33 Jahre
Ich habe den Westen jeden Tag gesehen
Erzieherin im Kinderheim »Eva Laube« Potsdam-Babelsberg, 28 Jahre
Im Fahrstuhl stecken geblieben
Forschungsstudent der Sektion Geschichte an der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, 27 Jahre
Eine »glückliche« Nachricht
Sachbearbeiter beim Rat der Stadt in der Nähe von Magdeburg, 26 Jahre
Hinfallen und immer wieder aufstehen
Wirtschaftskaufmann Industrie in der Konsumgenossenschaft Bernau; Fernstudentin an der Fachschule für Ökonomie Berlin-Karlshorst, 30 Jahre
Ost-West-Collage
Außerplanmäßige Aspirantin am Fachbereich Deutsch-Didaktik der Sektion Sprach- und Literaturwissenschaften an der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, 37 Jahre
Nicht die Mächtigsten schaffen Werte, sondern der arbeitende Bürger
Facharbeiter für Schreibtechnik im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena, Abt. ZTT3 – Betrieb für Zulieferung, Technologie für Großteilefertigung, 43 Jahre
Immer wieder Neuanfänge
Dekorateur im Sozialistischen Handelsbetrieb Möbel in der Nähe von Schwerin, 30 Jahre
Im Chaos der Abwicklung
Studentin am Fachbereich Philosophie der Sektion Marxismus/Leninismus an der Karl-Marx-Universität Leipzig, 21 Jahre
Leben heißt Veränderung – zum Glück
Studentin Agraringenieur – Landwirtschaftliche Tierproduktion an der Fachschule »Nikos Belojannis« Güstrow-Bockhorst, 19 Jahre
Bananen interessieren mich nicht
Friedhofsgärtner auf dem St.-Elisabeth-Friedhof Berlin-Mitte, 31 Jahre
Eingegrenzte und Ausgegrenzte
Freischaffender Publizist und Künstler in Rostock, 39 Jahre
Von der Pionierleiterin zur Personalreferentin
Studentin am Fachbereich Pädagogik – Fachrichtung Freundschaftspionierleiter/Staatsbürgerkunde an der Pädagogischen Hochschule »Ernst Schneller« Zwickau, 20 Jahre
Schwester im Osten wie im Westen
Fachschulstudentin Kinderkrankenpflege im Anna-Hospital Schwerin, 19 Jahre
Warum das Sandmännchen schon wieder ausfiel
Museologin am Kulturhistorischen Museum Rostock; Fernstudentin der Volkskunde an der Humboldt-Universität Berlin, 29 Jahre
Wechselbad der Empfindungen
Ingenieur für Feinwerktechnik im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena, Forschungszentrum, 49 Jahre
Reisen ist nicht alles
Meister für Kernkraftwerksanlagen im VE Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« Greifswald/Lubmin, 27 Jahre
Der Duft von Parfüm und Benzin
Studentin Ingenieurökonomie an der Ingenieurschule für Bauwesen Berlin, 22 Jahre
Rezensionen
Rezensiert von www.sprechstundenschwestern.de: https://www.sprechstundenschwester.de
Einer muss ja hierbleiben
Wurde die „Anpassungsleistung“ ehemaliger DDR-Bürger an ein vollkommen neu strukturiertes politisches System ausreichend gewürdigt? Fühlen sie sich verstanden? Lange schrieben mehrheitlich westdeutsche Autoren über die Wende. Nun beteiligten sich 15 Frauen und zwölf Männer an diesem von der Kulturwissenschaftlerin und Verlegerin Dr. Astrid Melzer initiierten Projekt. Das Anliegen: „Das Buch will ermutigen, Gesprächsbereitschaft zu entwickeln, einen offenen Gedankenaustausch zu befördern und die Bildung von weiteren Netzwerken anzuregen.“
Die Suche nach Menschen, die ihre individuellen Erlebnisberichte aus den Jahren 1989/90 verfassen wollten, stieß auf große Begeisterung, so die Herausgeberin. Durch Weitersagen, Internetrecherchen oder Berichte fanden Autor*innen und Verlag zusammen. Die meisten stammen interessanterweise aus dem heutigen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern, die wenigsten aus Brandenburg.
Im Vorwort heißt es: „Dieser Band versammelt Erfahrungen aus der Sicht derjenigen, die die Auswirkungen der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen auf ihr berufliches und familiäre Umfeld unmittelbar spürten: ehemalige DDR-Bürger, die ihrem Beruf bzw. ihrem Studium nachgingen, in verschiedenen Orten wohnten und damals im Alter von 18 bis 49 Jahren waren.“ […]
Im Buch bleiben die Verfasser*innen der 27 Lebensgeschichten anonym. Das heißt, außer damaligem Alter, Berufsstatus und Ort erfahren die Leser im Vorspann nichts Identifizierendes über die Personen. Uneingeweihte werden also rätseln, ob beispielsweise ein Wirtschaftskaufmann weiblich oder männlich ist. Doch das ist gewollt, denn es entsprach dem üblichen Sprachumgang in der DDR, der trotz Gleichberechtigung mit Gendern nichts am Hut hatte. Einen tiefergehenden Diskurs zu dieser Thematik gewährt eine vor 30 Jahren 36-jährige Aspirantin am Fachbereich Philosophie der Sektion Marxismus/Leninismus an der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock. Sehr lesenswert.
Wer das Inhaltsverzeichnis nach Parallelen zum eigenen Werdegang durchsucht, könnte Wichtiges verpassen. Es empfiehlt sich, wirklich alle Geschichten – vom Friedhofsgärtner über den Meister für Kernkraftwerksanlagen bis zur Oberassistentin an einer Universität – zu lesen, auch wenn durch die persönlichen Stile historische Ereignisse wie der Tag der Maueröffnung mehrfach, jedoch aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, erzählt werden. Ich fokussiere mich für diese Buchbesprechung absichtlich auf die Texte mit Bezug zum Gesundheitswesen.
So erfahren interessierte Leser*innen in Kapitel 2, dass „die Zulassung zum Studium eine Auszeichnung war…“ Unter der Überschrift „Graue Häuser – buntes Leben“ berichtet eine zur Wende 22-jährige pflegerische Hilfskraft und Fernstudentin über Anerkennung und Nichtanerkennung, Studienabbruch, politisches Engagement, Umschulung zur Ergotherapeutin und erster Ernüchterung angesichts „Profit statt Heilung“.
Im Vorspann der Geschichte „Risiken und Nebenwirkungen“ wird eine OP-Schwester angekündigt. Im Text wird jedoch der Weg dahin beschrieben. Dieser gibt nicht nur einen realistischen und wertvollen Einblick in Verhältnisse des DDR-Gesundheitswesens, sondern auch in Nachwende-Verwerfungen, die auf dieser Website bereits thematisiert, gesamtgesellschaftlich jedoch viel zu oft abgetan werden:
„… und so begann ich im September 1972 meine Ausbildung zur Stomatologischen Schwester – ein Beruf, den es so heute nicht mehr gibt. Nach der Wende ging man zurück auf alte Muster und nannte ihn ‚Zahnarzthelferin‘, was für mich bis heute eine ungerechtfertigte Degradierung darstellt. Schließlich beinhaltete die Ausbildung eine Menge Wissen, das andere Schwestern nicht haben müssen, und Können, das sonst nirgends gefordert wird.“
Anmerkung: Diese Ausbildung in der Fachrichtung „Stomatologische Assistenz“ an medizinischen Fachschulen war das zahnmedizinische Pendant der Sprechstundenschwester.
Heute selten thematisiert, aber glücklicherweise im Buch dokumentiert, ist die Vielfalt der vielfach nicht geradlinigen Berufswege. Der Erzählung „Schwester im Osten wie im Westen“ aus der Feder einer einst 19-jährigen Studentin der Kinderkrankenpflege, die in einem kirchlichen Krankenhaus arbeitete, verdanken wir unter anderem die Erinnerung, dass die Pflege in der DDR nicht selten ein beruflich verordneter Notnagel für politisch Kritische und Unbequeme war, die dennoch mit Würde ihre Aufgaben wahrnahmen.
Sehr berührend ist die Geschichte des einstigen (weiblichen) Wirtschaftskaufmanns. Im Jahr ihrer Silberhochzeit konnte sie nach vielen beruflichen Tiefen ihr Examen als Altenpflegerin feiern. Mit dem Ergebnis, fortan 50 Euro monatlich mehr zu verdienen als als Altenpflegehelferin. Dass diese Erinnerungen bewahrt wurden, ist besonders wertvoll – die an ALS erkrankte Autorin hatte ihren Text vollständig gelähmt, über Augensteuerung am PC, verfasst und ist inzwischen leider verstorben, wie mir die Herausgeberin des Buches berichtete.
Am meisten fasziniert hat mich die mit 16 Seiten längste Lebenserinnerung der Publikation. Dass sich die zur Wende 20 Jahre alte Zwickauer Pädagogik-Studentin ein paar Jahre später (im Westen) zur Krankenschwester umschulen lassen würde, ließ die Überschrift „Von der Pionierleiterin zur Personalreferentin“ nicht erahnen. Sie hat Karriere gemacht, aber auch immer weiter studiert, bis ins „hohe Alter“. Würden Frauen wie sie heute in Personalabteilungen ostdeutscher Kliniken sitzen, wäre die Gleichstellung der Sprechstundenschwestern keine Utopie mehr. Wobei darüber zu diskutieren wäre, ob dieser Werdegang so im Osten möglich gewesen wäre.
„Einer muss ja hierbleiben“ lädt ein, öfter in die Hand genommen zu werden. Von wem dieses titelgebende Zitat stammt, wird hier nicht verraten.
Für mich persönlich waren die uneinheitlichen Zeitformen der Kapitel zwischen Präsens und Plusquamperfekt teilweise verwirrend – insgesamt schmälern sie den Erkenntnisgewinn jedoch nicht. Nicht zuletzt sind diese grammatikalischen Besonderheiten vielleicht auch typisch ostdeutsch, denn sie sagen einiges zwischen den Zeilen. Die 27 Geschichten reflektieren viele bisher kaum öffentlich wahrgenommene oder gar gewürdigte Facetten ehemaliger DDR-Bürger: Durchhaltevermögen, Eigeninitiative, Flexibilität, Zielstrebigkeit, aber auch Überwinden von Unsicherheit und Zerrissenheit, oft auch einen unerschütterlichen Optimismus und (wiedergewonnenes) Selbstwertgefühl. In den Worten der Kinderkrankenschwester: „Es ist gut, ein Ossi zu sein. Wir erkennen uns überall: Das ‚Wir‘ steht über dem ‚Ich‘“.
Einer muss ja hierbleiben, Hg. von Astrid Melzer, filos Verlag, ET: 2019, 220 Seiten, ISBN 978-3-938498-34-7
rezensiert im April 2020
Rezension von Kerstin Erz in der Schweriner Volkszeitung vom 11.11.2019
Zernin: Ehrliche Geschichten aus der Wendezeit
Autorinnen des Buches „Einer muss ja bleiben“ lasen in der Pfarrscheune Zernin
„Im November 1989 lernte ich im Anna-Hospital, einem evangelischen Kinderkrankenhaus der Diakonie, das unter strenger Bewachung durch den Staat geduldet wurde. Wir waren der Medizinischen Fachschule Schwerin angeschlossen und erhielten von dort Marxismus-Leninismus-Lehrer, damit unsere Ausbildung staatlich anerkannt werden konnte…“
Anja Leez war eine der vier Autorinnen, die zu einer Lesung über die Zeit der Wende in die Pfarrscheune Zernin eingeladen hatten. Aufgeregt und angespannt waren alle. Selbst Annette Paduck. Sie hatte einen Schreibzirkel geleitet. Dort entstanden die Geschichten aus der Wendezeit, die in einem Buch erschienen. 40 Neugierige, sowohl aus Ost, als auch aus West rückten in dem kleinen Fachwerkraum der Pfarrscheune zusammen. Mit „Schwester im Osten wie im Westen“, „Zurück in den sicheren Osten“, „Immer wieder Neuanfänge“, „Leben heißt Veränderung“ und „Ostwestcollagen“ wurden fünf Erzählungen vorgelesen. Von Annette Paduck, Brit Abeln, Anja Leez und in Vertretung zweier erkrankter Autorinnen verstärkte Ulrike Gisbier die Vorlesenden. Die Geschichten gaben Einblicke in die Zeit vor, während und nach dem Mauerfall. Gespannt verfolgten die Gäste diese Lesungen, die zum Teil lustig, aber auch nachdenklich stimmten, ja sogar zu Tränen rührten.
Eine anschließende Diskussion war da vorprogrammiert aber auch gewünscht worden. Die Zuhörer zeigten sich beeindruckt, dass die Wendezeit an so manchem auch völlig unspektakulär vorübergezogen war und manchmal sogar erst Tage später wirklich wahrgenommen wurde. Margot Krempien aus Laase hörte „viel Ehrlichkeit“ aus den Geschichten und erzählte dann von ihren eigenen Erfahrungen mit den Montagsdemos in Schwerin und dass sie auf dem Gebiet der Kultur Menschen um sich scharren konnte, die hier Veränderungen wollten. Christiane Lentz aus Baumgarten war mit einem Offizier verheiratet, der kurz vor der Wende wegen ihrer Westverwandtschaft in Unehren entlassen wurde. „Wir wussten, dass wir immer bespitzelt wurden. Als die Wende da war, hatte ich große Angst. Wir sind lange nicht rübergefahren.“ Ernst Schützler und seine Frau Gudrun lobten den Schreibstil und auch den Inhalt des Gehörten. Christiane Lentz befand, dass der Schreibzirkel bei den Teilnehmern etwas geweckt, Persönlichkeiten geschaffen habe, die sagen: ich bin ich und kann etwas bewirken. Annette Paduck, „Das Thema war ideal, sich selbst zu erkunden. Wir haben so viel in uns, wann kommt das schon mal raus? Mit dem Schreiben aber ist das möglich!“ Frauke Schulz aus Qualitz erklärte: „Ich finde, dieses Buch ist ein echtes, ehrliches Geschichtsbuch für die Kinder von heute.“